Europa ist bereit, den Grünen Deal und die Sorgfaltspflicht im Namen der Wettbewerbsfähigkeit zu opfern

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Die geplante Vereinfachung von Vorschriften durch die Europäische Kommission im Rahmen der Omnibus-Gesetzesüberprüfung weckt Sorgen über eine mögliche Abschwächung zentraler Nachhaltigkeitsstandards. Dies würde Europa nicht voranbringen, sondern Unsicherheit schaffen und innovative Unternehmen benachteiligen, die bereits Vorreiter in der Nachhaltigkeit sind.

 

Am 29. Januar legte Ursula von der Leyen einen Text vor, in dem sie einen „Kompass der Wettbewerbsfähigkeit“ für die Europäische Union vorschlägt. Zu den angekündigten Maßnahmen gehören „Vereinfachungen“, von denen eine auf der Idee beruht, dass „der Regelungs- und Verwaltungsaufwand zu einer Bremse für die Wettbewerbsfähigkeit Europas geworden ist“.

Ab dem 26. Februar 2025 soll der Entwurf der sogenannten Omnibus-Verordnung geprüft werden, in dessen Mittelpunkt die „Vereinfachung“ einer Reihe von EU-Rechtsvorschriften steht, von denen einige die Grundpfeiler des Grünen Deals und der europäischen Verpflichtung zur Nachhaltigkeit und Resilienz der Unternehmen darstellen.

Zu den am meisten gefährdeten Richtlinien gehören die CS3D – Corporate Sustainability Due Diligence Directive (Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit), die im März 2024 vom Rat der EU angenommen worden war, und die CSRD – Corporate Sustainability Reporting Directive (Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen), die am 5. Januar 2023 in Kraft trat. Was genau steht zur Debatte?

Hinweis: Dieser Artikel wurde von Laurence Scialom verfasst und in der Zeitschrift Alternatives Economiques veröffentlicht. Die darin geäußerten Ansichten sind die der Autorin und spiegeln nicht notwendigerweise die Positionen von Finance Watch wider. Wir danken Laurence Scialom und Alternatives Economiques herzlich für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Artikels auf unserem Blog.

Die Umwelt berücksichtigen

Das Ziel der  CSRD ist es, Finanz- und Nachhaltigkeitsinformationen die gleiche Bedeutung beizumessen. Die große Innovation der CSRD besteht darin, dass sie die „doppelte Wesentlichkeit“ (finanzielle Materialität und Wirkungsmaterialität) zu einem zentralen Instrument gemacht hat, um die Themen zu identifizieren, die in den Nachhaltigkeitsbericht aufgenommen werden müssen.

Dies war ein großer Einschnitt, da im Rahmen der CSR – Corporate Social Responsibility (Unternehmerische Sozialverantwortung) in der Regel die sogenannte finanzielle oder einfache Wesentlichkeit gilt. Vereinfacht gesagt geht es dabei nur um die Auswirkungen von Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen auf die Bilanz des Unternehmens und auf dessen Bewertung an der Börse, sofern das Unternehmen börsennotiert ist.

Wenn ein Unternehmen aufgrund seines Standorts in hohem Maße Umwelt-, Sozial- und Governance-Risiken (ESG-Risiken) ausgesetzt ist, – etwa durch Überschwemmungen, Flächenbrände oder beschränkter Wassernutzung-, müssen diese Informationen den Anlegern offengelegt werden, da dies potenzielle Auswirkungen auf die Ergebnisse und den finanziellen Wert des Unternehmens hat – also Risiken für die Anleger birgt. Nicht berücksichtigt werden hingegen die Risiken oder die Umweltzerstörung im weiteren Sinne, die das Unternehmen verursacht, z. B. Luft- oder Wasserverschmutzung oder die Beeinträchtigung der Artenvielfalt.

Europa hat beschlossen, im Bereich der nichtfinanziellen Berichterstattung einen Schritt weiter zu gehen und das Konzept der doppelten Wesentlichkeit anzuwenden. Das bedeutet nicht nur die Auswirkungen von ESG-Risiken auf das Unternehmen, sondern auch die Auswirkungen des Unternehmens auf sein Ökosystem zu berücksichtigen. Konkret heißt das, dass wenn ein Unternehmen seine Ökosysteme verschlechtert, es diese Information offenlegen muss. Gleichzeitig müssen weiterhin die ESG-Risiken, denen es ausgesetzt ist, dargelegt werden

Die doppelte Wesentlichkeit erkennt also an, dass die Verantwortung von Unternehmen und Finanzinstituten nicht bei ihrer finanziellen Leistung endet, sondern dass sie auch die tatsächlichen und potenziellen negativen Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf die Menschen, die Gesellschaft und die Umwelt angehen und verantworten müssen.

Sorgfaltspflicht

Die CS3D, also die Richtlinie über die Sorgfaltspflichten, erlegt den betroffenen Unternehmen ihrerseits mehrere Verpflichtungen auf. Verschiedene Regeln sind darin verankert:

  1. Die Pflichten von Unternehmen hinsichtlich der tatsächlichen oder potenziellen negativen Auswirkungen ihrer Tätigkeiten, denen ihrer Tochtergesellschaften und den Geschäften ihrer Geschäftspartner auf die Menschenrechte und die Umwelt;
  2. Die Haftung von Unternehmen bei Nichterfüllung dieser Pflichten;
  3. Die Verpflichtung für Unternehmen, einen Übergangsplan zum Klimaschutz zu verabschieden und umzusetzen, um eine Übereinstimmung zwischen ihrem Geschäftsmodell und der Einhaltung des Pariser Klimaabkommens zu gewährleisten.

Diese beiden grundlegenden Texte des Grünen Deals, die CSRD und CS3D, bilden ein kohärentes Regelwerk, das von einer bestimmten Vision der unternehmerischen Verantwortung im Zeitalter des Anthropozäns getragen ist. Diese Vision unterscheidet sich grundlegend von der Vorstellung, dass ein Unternehmen nur auf den Unternehmenswert bedacht sein sollte.

Die Verantwortung von Unternehmen und Finanzinstituten, insbesondere von börsennotierten, beschränkt sich nicht mehr nur auf ihre finanzielle Leistung und dieWertschöpfung für die Aktionäre. Sie müssen auch die tatsächlichen und potenziellen negativen Auswirkungen ihrer Strategien und Entscheidungen auf die Menschen, die Gesellschaft und die Umwelt berücksichtigen und die Verantwortung dafür übernehmen.

Dieses Paket von EU-Vorschriften stellt also einen echten Paradigmenwechsel dar und nimmt eine Art Neuverortung der Unternehmen in der Gesellschaft und generell in Ökosystemen vor. Nun wächst jedoch die Gefahr, dass diese Errungenschaften wieder rückgängig gemacht werden.

Ein wirtschaftlicher und strategischer Fehler

Der Wille zu einem Kurswechsel wird durch die Diskussion über den Clean Industrial Dealdeutlich.Dieser markiert den Beginn eines neuen Ansatzes der Europäischen Kommission, der zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Industriezweigen, die an der Energiewende beteiligt sind, beitragen soll. Der Grüne Deal hat die letzte Legislaturperiode 2019-2024 geprägt, der Clean Industrial Deal wird im Anschluss an den Draghi-Bericht die Amtszeit der nächsten Kommission prägen.

Sollte man jedoch die Errungenschaften des Grünen Deals aufgeben, der Europa eine führende Position im Bereich Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit von Unternehmen verschafft hat und die Grundlagen für eine potenziell nachhaltigere Finanzwirtschaft legt? Besteht die Notwendigkeit einer Abwägung zwischen Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit? Für Ursula von der Leyen scheint die Antwort unbestreitbar „ja“ zu lauten, was einen grundlegenden strategischen Fehler darstellt.

Der Begriff der Wettbewerbsfähigkeit, wie ihn die Kommission versteht, ist übermäßig restriktiv und schafft es nicht, sich von den veralteten Vorstellungen einer Wirtschaft zu lösen, die die Überschreitung der Grenzen unseres Planeten einfach ignoriert. Er zeugt von einem Unverständnis der zukünftigen Welt und der Tatsache, dass die Nachhaltigkeit von Unternehmen letztendlich ein Wettbewerbsfaktor sein wird. Unseren strategischen Vorsprung in diesem Bereich und zugleich die damit verbundene Soft Power zu opfern, wäre eine schwerwiegende Fehlentwicklung.

Denn der von der Europäischen Union gesetzte Rahmen für die Nachhaltigkeitsberichterstattung wird von immer mehr Staaten und Unternehmen befolgt. So orientiert sich das Vereinigte Königreich am Standard der doppelten Wesentlichkeit. Vor allem aber ist China Europa bei den Anforderungen an die Nachhaltigkeitsstandards dicht auf den Fersen. Seine drei wichtigsten Börsen – Shanghai, Shenzhen und Peking – kündigten im Februar 2024 neue Leitlinien für die ESG-Berichterstattung börsennotierter Unternehmen an: Sie orientieren sich am Konzept der doppelten Wesentlichkeit und treten 2026 in Kraft.

Was die Sorgfaltspflicht betrifft, haben viele Länder ebenfalls entsprechende Gesetze verabschiedet oder sind dabei, sie zu verabschieden, insbesondere im Bereich der Menschenrechte. Dies gilt für Südkorea, Australien, das Vereinigte Königreich, Brasilien, Japan oder Kanada.

Deutschland drängt massiv auf eine Schwächung des Grünen Deals, und Frankreich, das sich immer für den Grünen Deal eingesetzt hatte, zeigt heute in einer Mitläuferhaltung den Willen, ihn zu torpedieren. Was für eine Unbeständigkeit und Mangel an strategischer Weitsicht!

Den Kampf fortsetzen

Durch die Aushöhlung des Grünen Deals verlieren wir unseren Vorsprung und geben faktisch zu, dass sich Europa künftig auf die Anpassung an den Klimawandel konzentrieren wird, anstatt auf dessen Bekämpfung. Wir opfern uns einer kurzfristigen Logik des Wettbewerbs zwischen den Staaten und schaffen Unsicherheit für alle Wirtschaftsteilnehmer, die sich bereits ehrgeizige Nachhaltigkeitsziele gesetzt haben. Damit bestrafen wir die Vorreiter. Obendrein überlassenwir China die Führungsrolle im Bereich der Nachhaltigkeit und steigern so seine Attraktivität im globalen Süden.

Dennoch ist die Partie vielleicht noch nicht entschieden, auch wenn die Hoffnung auf ein Aufbegehren angesichts der Orientierungslosigkeit der Brüssler Institutionen und verschiedener Regierungen nach Beginn der neuen Amtszeit von Donald Trump eher gering ist. Viele Industrieunternehmen haben jedoch erkannt, was bei diesem Rückschritt auf dem Spiel steht, und lehnen eine Überarbeitung und Neuverhandlung der CSRD ab.

So forderte das Collège des directeurs du développement durable (C3D), in dem über 380 CSR-Direktoren großer französischer Konzerne (Bouygues, EDF, Amundi, L’Oréal, Carrefour, Veolia, Lagardère usw.) zusammengeschlossen sind, die Kommission auf, an der ursprünglichen Absicht der CSRD und ihrer Agenda festzuhalten.

Auch die Bürgerinnen und Bürger mobilisieren sich: Mehr als 160 Organisationen der Zivilgesellschaft (NGOs, Menschenrechts- und Umweltschützer, Gewerkschaften usw.) sprechen sich gegen die Infragestellung der Richtlinie über die Sorgfaltspflicht aus.

Der Kampf um Einfluss zwischen denjenigen, die die Grundpfeiler des Grünen Deals aufgeben wollen, und den Verfechtern einer nachhaltigeren und resilienteren Wirtschaftswelt, die die europäischen Errungenschaften im Bereich der Nachhaltigkeit mit allen Kräften verteidigen wollen, ist also in vollem Gange.

 

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Verfasser*in

Laurence Scialom

Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Nanterre La Défense (Paris)

Über den/die Verfasser*in

Laurence Scialom is a French professor and researcher in the fields of micro and macro-prudential regulation, central banking and, more generally, sustainable and responsible finance. She is an individual member of Finance Watch.

After multi-disciplinary studies (BA in Contemporary History at Jussieu 1984, diploma of the Institute of Political Studies of Paris 1986 and a PhD in Economics in 1991, Laurence Scialom was then a professor at the University of Lille 2 from 2000 to 2003 and  currently at the University of Paris 10 Nanterre , where she is actively engaged with EconomiX with a specific research focus on micro and macro-prudential regulation, central banking and, more generally, sustainable and responsible finance. She was nominated for the prize of the best young economist of France in 2000 and she is currently co-head of the M2 Banks Money Markets at the University of Paris West, and co-head of the M2 Institutions Economy and Society (co-authored with the EHESS). member of the Scientific Council of the ACPR and a member of the Advisory Committee Savers of the AMF.

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