Das Billionen-Euro-Problem
Mario Draghis Bericht fordert zusätzliche 800 Milliarden Euro pro Jahr für Investitionen in Umwelt, Digitalisierung und Verteidigung. Da privates Kapital diese Ausgaben nicht decken kann, kann nur eine erhebliche öffentliche Finanzierung diesen Herausforderungen gerecht werden.
Am 9. September hielt Brüssel den Atem an, als Mario Draghi einen Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit präsentierte. Der Bericht reagierte auf das nachlassende Wirtschaftswachstum Europas, insbesondere im Vergleich zu den USA. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen appellierte daraufhin an ihre Kommission im kommenden institutionellen Zyklus Draghis Wettbewerbsbericht in ihrer Arbeit zu berücksichtigen. Ein zentrales Ergebnis war Draghis Aufruf zu einer jährlichen Investitionssteigerung von 750-800 Milliarden Euro, um die Herausforderungen der Dekarbonisierung, Digitalisierung und Verteidigung zu bewältigen und gleichzeitig Europas globale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Draghis Botschaft war klar: Entweder erhöht man die Investitionen drastisch, oder man steht vor der „slow agony“ des relativen Niedergangs.
Finance Watch ist unter Berücksichtigung früherer Schätzungen der Europäischen Kommission zur Bewältigung des Klimawandels zu dem Ergebnis gekommen, dass Draghis Forderung nach einer Investitionssteigerung um 750-800 Milliarden Euro dabei noch weitaus zu gering geschätzt ist. So müsste den Berechnungen von Finance Watch zufolge sogar insgesamt rund 1,2 Billionen Euro mehr investiert werden, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas unter den aktuellen Herausforderungen zu unterstützen. Ein ähnliches Investitionsniveau im Verhältnis zum BIP gab es zuletzt vor 50 Jahren. Doch wie kann ein solcher Investitionsschub unter heutigen Bedingungen finanziert werden?
Die Illusion privates Kapital könne den grünen Wandel in der EU finanzieren
Seit Jahren setzen die politischen Entscheidungsträger in Brüssel auf privates Kapital, um Europas Investitionsbedarf zu decken. Das Ziel ist, durch Reformen der Finanzregulierung, einen liquiditätsstarken Kapitalmarkt nach dem US-Modell zu schaffen, der Unternehmen das Wachstum und die Umsetzung strategischer Projekte erleichtert. Doch die Realität sieht anders aus: Simulationen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Kommission zeichnen ein ernüchterndes Bild – privates Kapital allein reicht nicht aus, um die Finanzierungslücke zu schließen.
Um das Problem besser zu verstehen, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Investitionslücke im Bereich des Klimaschutzes zu werfen. Die Bekämpfung des Klimawandels und die Anpassung an seine Folgen stehen im Mittelpunkt der Investitionsherausforderungen Europas. Erneuerbare Energien können fossile Brennstoffe nach wie vor nicht vollständig ersetzen. Technologien zur CO₂-Entfernung sind noch nicht ausreichend entwickelt. Deshalb muss die EU muss dringend handeln, um eine katastrophale Erderwärmung von bis zu +3°C bis zum Ende des Jahrhunderts zu verhindern. Frühzeitige Investitionen, wie die energetische Sanierung von Gebäuden oder die Umschulung von Arbeitskräften für emissionsarme Berufe, könnten soziale Vorteile bringen, die das „Zwei- bis Zehnfache ihrer Kosten“ übersteigen.
Doch wie ein aktueller Bericht von Finance Watch zeigt, sind private Kapitalmärkte nicht für diese Art von Investitionen ausgelegt. Sie sind durch die grundlegende Dynamik von Risiko und Rendite begrenzt, wobei Instrumente wie das „Kapitalgutpreismodell“ langfristige Investitionen, die für den Klimaschutz dringend erforderlich sind, systematisch unterbewerten. Auch Schuldinvestoren stehen vor Herausforderungen, da viele grüne Projekte nicht die kurzfristigen Renditen erwirtschaften, die notwendig wären, um die Anleihezinsen zu rechtfertigen. Selbst mit den neuesten Regelungen zur nachhaltigen Finanzierung bleibt Rentabilität oft wichtiger als Nachhaltigkeit. Die Hoffnung, private Märkte könnten den grünen Wandel in der EU finanzieren, ist demnach eine Illusion. Selbst eine vollendete Kapitalmarktunion könnte nur etwa ein Drittel der benötigten Mittel aufbringen. Nur öffentliche Investitionen auf EU-Ebene können die Stabilität und langfristige Perspektive bieten, die notwendig sind, um die dringend erforderlichen Projekte zu finanzieren.
Vergemeinschaftung von EU-Schulden als Antwort auf die finanzielle Herausforderung
Diese Argumentation stieß jedoch auf erheblichen politischen Widerstand. Nach der Veröffentlichung von Draghis Bericht äußerten prominente Politiker wie der deutsche Finanzminister Christian Lindner und sein niederländischer Kollege Eelco Heinen ihre Ablehnung gegenüber einer gemeinsamen EU-Verschuldung. Lindner betonte, dass gemeinschaftliche Kreditaufnahmen „keine strukturellen Probleme lösen“ würden, während Heinen argumentierte, „mehr Geld ist nicht immer die Lösung.“ Viele sehen die Antwort vielmehr im Bürokratieabbau und in der Verbesserung des Zugangs zu privatem Kapital, anstatt die öffentlichen Investitionen zu erhöhen. Doch solche Maßnahmen allein reichen nicht aus, um das Investitionsvolumen zu mobilisieren, das erforderlich ist, um Europas Energiesystem zu transformieren, die digitale Infrastruktur auszubauen und die Verteidigungsfähigkeiten zu stärken – geschweige denn den grünen Wandel voranzutreiben. Die im Draghi-Bericht dargelegten strukturellen Herausforderungen Europas erfordern eine wesentlich größere und koordiniertere finanzielle Antwort.
Wie sollten die öffentlichen Finanzen auf EU-Ebene also gestaltet sein? EU-Anleihen sind zwar umstritten, aber unverzichtbar. Gemeinsame Schulden könnten die finanzielle Last auf alle Mitgliedstaaten verteilen und es der EU ermöglichen, eine ambitionierte Agenda umzusetzen. Trotz des Widerstands einiger Länder überwiegen die Vorteile koordinierter Investitionen bei weitem die Risiken. Die Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie haben gezeigt, wie gemeinsames Handeln erhebliche finanzielle Mittel mobilisieren kann – etwa durch die EU-Aufbau- und Resilienzfazilität. Selbst in Bereichen wie Klimaschutz und Digitalisierung, in denen privates Kapital eine wichtige Rolle spielen wird, können nur zusätzliche öffentliche Investitionen das notwendige Ausmaß und die langfristige Stabilität sichern.
Innovative Lösungen über Anleihen hinaus
Europa muss neben der Debatte über Anleihen auch innovative Lösungen ins Auge fassen. Begrenzte Formen der monetären Finanzierung – wie spezielle Investitionsvehikel oder die Unterstützung der Zentralbank für grüne Anleihen – könnten eine Option sein. Diese Ansätze müssten jedoch sorgfältig abgestimmt werden, um inflationären Druck oder eine Aushöhlung der Haushaltsdisziplin zu vermeiden. Angesichts der Risiken durch Unterinvestitionen könnten solche Instrumente dennoch einen pragmatischen Weg nach vorn bieten. In jedem Fall muss Europa seine Fiskalpolitik konsequent mit seinen strategischen Zielen in Einklang bringen. Die Herausforderung ist enorm, doch das Versäumnis, in die Zukunft zu investieren, wäre weitaus teurer. Europas Fähigkeit, öffentliche Mittel zu mobilisieren, wird im globalen Wettlauf um die Marktführung bei Klimaschutz, digitaler Innovation und Sicherheit entscheidend sein – und darüber bestimmen, ob die von Draghi prophezeite „slow agony“ abgewendet werden kann.